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Alex Rühle von der Süddeutschen Zeitung (23.11.2007) missglückt eine "eine kleine Kulturgeschichte des Lebensmittelattentates und Farbbeutelwurfs" (wie die Kollegen von rebel:art den Artikel einführen). Ziemlich uninspiriert macht er sich der Todsünde des Feuilletons schuldig. Vom eigenen Geschmack auf das Phänomen zu schließen. Aber die Süddeutsche hat die taz schon lange in Sachen Zentralorgan der Bildungsbürger abgelöst.

"Kuchen-Attentate auf Politiker
Eine Torte sagt mehr als 1000 Worte

Joschka Fischer, Helmut Kohl und Günther Oettinger, sie alle wurden Opfer eines Anschlags. Aus gegebenem Anlass: eine kleine Kulturgeschichte des Lebensmittelattentates und Farbbeutelwurfs.

Der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger wurde am Donnerstag bei einer Veranstaltung in Stuttgart von einer Studentin mit einer Torte beworfen. Oettinger hielt gerade eine Rede zum Jubiläum des zehnjährigen Bestehens der Pro Arbeit GmbH im Stuttgarter Haus der Wirtschaft, als eine Studentin aufs Podium trat, eine Pappschachtel öffnete, "Arbeit für alle!" rief und eine Schwarzwälderkirschtorte warf.

Abgesehen davon, dass das Lebensmittelattentat (ebenso wie der Farbbeutelwurf) ungefähr so alt und dämlich ist wie der Blondinenwitz - die Studentin hat komplett versagt: Zum einen traf sie nur Oettingers Anzug. Vor allem aber gibt es von dem Vorfall kein Foto. Das Tortenattentat aber bezieht seine Kraft daraus, dass es das Gesicht eines Mächtigen sichtbar verunstaltet.

Oder wie es Agent Chocolate, Mitglied der semiprofessionellen Biotic Bakery Brigade aus San Francisco ausdrückt: "Das Tortenwerfen als Geste ist wie visuelles Esperanto, es wird weltweit verstanden. Man kann damit jemanden, der sich als unantastbar gibt, im Fernsehen auf eine menschliche Ebene herunterholen. Eine Torte im Gesicht ist ein kraftvolles Zeichen von Kritik und es macht Spaß." Diese Sätze enthalten in nuce alle wesentlichen Elemente des Tortenattentates: Der Tortenwurf ist ein Kind der Mediendemokratie und der Spaßgesellschaft. Und die Werfer sehen sich meist als politische Heroen, die die Mächtigen als Witzfiguren demaskieren: Eben deshalb zielen sie auch immer auf das Gesicht von prominenten Politikern. Nie war hingegen von Torten gegen anonyme Polizeieinsatztruppen zu hören.

Halt, stimmt nicht, in Deutschland kam sie als Waffe erstmals in der historischen Tortenschlacht von Hannover zum Einsatz: Im Rahmen der 23. Delegiertenkonferenz des SDS wollte Fritz Teufel 1968 mit Freunden ein Café besuchen. Der Besitzer verweigerte ihnen den Zutritt und rief die Polizei. Teufel und seine Freunde plünderten daraufhin die Vitrinen und bewarfen die Polizisten mit dem reichhaltigen Sortiment des Konditors.

Es gibt das Tortenattentat überhaupt erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts, seit die Grundversorgung der Bevölkerung soweit sichergestellt ist, dass sich keiner beim Betrachten solcher Bilder über die Verschwendung kostbarer Lebensmittel aufregt. Erfunden wurde die Torte als Wurfgeschoss freilich im amerikanischen Showbusiness, von wo aus sie schnell ins Kintopp hinüberflog. Irgendwann hatten sich aber auch die letzten Stummfilmzuschauer sattgesehen an den dauernden Tortenschlachten.

Stan Laurel und Oliver Hardy bestellten deshalb 1927 bei der Los Angeles Pie Company 3000 Torten, brauchten sie in dem programmatischen Film "The battle of the Century" restlos auf und sagten danach, das sei der definitive pie picture, "a pie picture to end all pie pictures". Seither ziehen Filmemacher Tortenwürfe denn auch nur noch als Hommage an den Stummfilm oder als ironisches Bekenntnis zur eigenen künstlerischen Anspruchslosigkeit heran.

Leider sind die politischen Tortenwerfer noch nicht soweit wie die Filmemacher. Sie werfen weiter, obwohl sich auch in der Politik das Überraschungsmoment längst abgenutzt hat: Als im Jahr 2000 auf einer der Kyoto-Folgekonferenzen der amerikanische Delegationsleiter Frank E. Loy von einer Sahnetorte erwischt wurde, redete er einfach stoisch weiter, als ob nichts passiert sei.

Möglichst viele Menschen eintorten

Womit er ja in gewisser Weise recht hat: Tortenattentate sind eher symbolisch gemeinte Anschläge. Der Wurf soll nicht so sehr schmerzen (noch nie wurde ein Politiker mit Printen oder einem harten Streuselkuchen beworfen) als den Getroffenen der Lächerlichkeit preisgeben. Damit sie optisch möglichst viel Unheil anrichtet, konzentrieren sich Tortenwerfer deshalb stets auf extrem cremige Produkte. Noël Godin spricht in dem Zusammenhang von der "tarte classique", bestehend aus einem weichen, leichten Biskuitboden und möglichst viel Sahne.

Godin ist so etwas wie der Patriarch unter den Tortenattentätern. Seit er 1968 Marguerite Duras bewarf, hat der belgische Autor und Kritiker es sich zum Lebensziel gemacht, möglichst viele Menschen einzutorten, die seiner Meinung nach selbstgerecht und humorlos sind. Auf die Idee, dass das selbst wieder selbstgerecht sein könnte, ist er bislang noch nicht gekommen.

Zu seinen Opfern zählen Nicolas Sarkozy, Bill Gates, Jean-Luc Godard, und der Philosoph Bernhard-Henry Levi, den er bereits siebenmal bewarf. Godin hat im französischsprachigen Raum eine ihm nacheifernde Fangemeinde, die sich in Anlehnung an die Ärzte ohne Grenzen als Pâtissiers sans Frontières bezeichnen. Und die schon zitierten Mitglieder der amerikanischen Biotic Bakery Brigade sehen sich als international agierende Gruppierung, die schon mehr als 40 erfolgreiche Attentate verübte.

Unseren Recherchen zufolge hatte bislang freilich nur ein Lebensmittelattentat politische Wirkung, 2001, beim Wahlkampfauftakt der CDU in Berlin: Als Demonstranten die gesamte Unionsspitze mit Eiern bewarfen, ging der Berliner Spitzenkandidat Frank Steffel reflexhaft hinter Edmund Stoiber in Deckung. Das hätte jeder so gemacht, Steffel aber galt fürderhin als Feigling und ward nie mehr gesehen."


Schon erhellend was so ein SZ-Feuilletonist als "politische Wirkung" begreift.
 

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