Aus gegebenem Anlaß: Ein Interview des Netzwerkes Kritische Geschichtswissenschaft (KW) (2005) mit Rüdiger Haude (RH).
Karneval und kritische Geschichte. Nicht wenige Intellektuelle wie Eric Hobsbawm interpretieren das bunte Treiben als mehr oder weniger perfide Form der Herrschaftsstabilisation. "Karneval ist der Tag an dem der Deutsche lacht", polemisiert auch nicht ohne Grund der Kabarettist Volker Pispers. Auf der IX. internationalen Konferenz des Berliner Instituts für kritische Theorie (InkriT) kam der Kulturwissenschaftler Rüdiger Haude nach Sichtung des historischen Materials zu einem differenzierteren Bild.
KW: Was hat eigentlich das Schlagwort "Karneval" in einem Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus zu suchen?
RH: Als "Karneval" untersuche ich, in der Nachfolge des russischen Literaturwissenschaftlers Michail Bachtin, nicht nur die "tollen Tage" vor der katholischen Fastenzeit, sondern allgemein kulturelle Formen, die sich gegen die hegemoniale Logik von Herrschaft und Ausbeutung setzen und dies in Festen zum Ausdruck bringen. Es sind Feste der Statusumkehr, bei denen die Hierarchien des Alltags aufgehoben sind und die Entbehrungen des Alltags durch den Exzess ersetzt werden. Wenn sich solche Feste bei den "Ritualen der Rebellion" der Zulu in Südafrika ebenso finden wie bei den römischen Saturnalien des Altertums oder im Karneval der europäischen Renaissance, so verweist das nicht auf genetische Verwandtschaft, sondern auf eine Ähnlichkeit der politischen und ökonomischen Strukturen und Kämpfe. Ins HKWM gehört ein entsprechendes Stichwort, weil Karneval emanzipatorische Kämpfe auf mehrfache Weise belehren kann - als Anregung ebenso wie als Mahnung.
KW: Worauf bist du bei deinen Forschungen gestoßen? Oder: Welches Bild ergibt sich heute für dich?
RH: Im Kulturvergleich ist eine erstaunliche Konstanz der Formen bei karnevalesken Festen der Statusumkehr festzustellen. Dem steht eine heftige Kontroverse über die politischen Funktionen gegenüber, die diesen Formen zukommen. Nicht ,entpolitisierte' Fragen über Brauchtum oder Fruchtbarkeitsmagie bestimmen heute die Debatten zur Geschichte des Karnevals, sondern die politischen Wechselwirkungen zwischen Karneval und Alltag.
KW: Welche politischen Funktionen kommen demnach dem Karneval zu?
RH: Ich habe vier Argumentationslinien unterschieden. Zwei von diesen sehen den Karneval als systemstabilisierend, nämlich einmal dadurch, dass der Karneval (im engeren Sinne) von der katholischen Kirche als Schreckbild inszeniert werde, um die Gläubigen desto bereitwilliger die Entbehrungen der darauf folgenden Fastenzeit ertragen zu lassen. Zum anderen dadurch, dass die karnevalesken Exzesse als "Ventil" aufgestauter Frustrationen dienten. Die anderen beiden Argumentationslinien sehen Karneval als oppositionelle Äußerungsform. Bachtin hat den Karneval der Renaissance vor allem als eine "zweite Welt" bestimmt, als scharf vom Alltag abgegrenzte Lebensform eigenen Rechts. Es ist die "Lachkultur", geprägt vom "grotesken Realismus", der ständig oben und unten vertauscht und mithin keine Hierarchien gelten lässt. Nur an wenigen Stellen kann man bei Bachtin aber ahnen, dass der Karneval als Labor für die Erprobung anderer Lebensformen dienen kann, oder als Ort, wo politische Kämpfe ausgetragen werden. Dieser vierte Aspekt, also der Zusammenhang von Karneval und Revolution, erscheint mir am spannendsten.
KW: Antideutsche würden vielleicht sagen, hier feiert sich die Volksgemeinschaft. Hätten sie damit Recht?
RH: Nein. Karneval ist ganz sicher kein national zu fassendes Phänomen. Freilich hat die vereinsmäßig gefasste Karnevalsumgestaltung im Rheinland in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts ein Programm nicht nur der Zähmung des Karnevals, sondern auch der nationalen Erziehung verfolgt, aber das gelang eben nur teilweise - das subversive Potenzial des Karneval brach sich, wie im Vormärz, immer wieder Bahn. Im 20. Jahrhundert ist der Karneval in Deutschland von den Nationalsozialisten pervertiert worden, aber das hat er z.B. mit vielen Elementen der Arbeiterbewegungskultur gemeinsam. Man darf das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, sondern muss schauen, um welche kulturellen Formen zu kämpfen sich lohnt.
KW: Schlug der Karneval in Revolten um?
RH: In Zeiten gesteigerter sozialer Spannungen, wenn die hegemoniale Ordnung einer Delegitimation unterlag, konnte der Karneval die Bühne sein, auf der das Startsignal zur Rebellion gegeben wurde. So liegt der Fall im bekannten "Karneval in Romans" von 1579, den Emmanuel Le Roy Ladurie so dicht beschrieben hat, oder auch beim Baseler Bildersturm von 1529, den Peter Weidkuhn erwähnt. Aber man sollte nicht nur das unmittelbare "Umschlagen" berücksichtigen, sondern auch den Effekt, dass der Karneval den Menschen überhaupt das Bewusstsein möglicher Alternativen zum Status quo vermittelte; ein Bewusstsein, dass dann zu ganz anderen Zeiten praktisch werden mochte.
KW: Siehst du einen Zusammenhang zwischen Karneval und den Aktionsformen der gegenwärtigen sozialen Bewegungen?
RH: Selbstverständlich. Das Vermummen und das theatralische Darstellen, die symbolische Tötung oder Bestattung allegorischer Figuren, die demonstrative Negation der hergebrachten Hierarchien, etwa durch Verspottung, und die geringe oder gar inexistente Bedeutung von Anführern - das alles gehört zum festen Repertoire der neuen sozialen Bewegungen. Der Pariser Mai 1968 zeigte dies bereits, und in den globalisierungskritischen Bewegungen ist diese performative Struktur besonders ausgeprägt. Negri und Hardt sehen deshalb im Karneval die "Logik der Multitude" verwirklicht.
Aber man darf die Ambivalenzen des Karneval nicht aus den Augen verlieren. Über Bachtins rigorose Trennung von Karneval und Alltag, die als idealtypische ihren Erkenntniswert hat, darf nicht ausgeblendet werden, dass der Karneval keineswegs frei ist von den Einflüssen der Hegemonial-Kultur (so wie umgekehrt die Logik der Groteske im Mittelalter nicht auf die karnevalistische Gegenkultur beschränkt war). Karneval konnte nicht nur in Revolte umschlagen, sondern auch in Pogrom. Es kommt deshalb darauf an, den Kampf um die Zielrichtung des Karnevals zu führen. Er hat schon eine tendenziell emanzipatorische Eigenlogik; aber man muss die Gefahr ihrer repressiven Überlagerung im Blick behalten.
KW: Zuletzt: Siehst du zum Thema Karneval noch Aufgaben einer gesellschaftskritischen historischen Sozialwissenschaft?
RH: Viele. Die Diskussion auf der InKriT-Tagung hat zum Beispiel ergeben, dass die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Karneval bislang unterbelichtet ist: In welchen staatlichen Kontexten findet kein Karneval statt, und warum ist das so? In welchem Verhältnis, so möchte ich selbst später einmal untersuchen, stehen karnevaleske Umkehrrituale zu entsprechenden Formen des Verspottens und der Parodie in vorstaatlichen, herrschaftsfreien Gesellschaften? Auch ist die Änderung der Bedingungen für karnevalistisches Handeln im entwickelten Kapitalismus zwar gelegentlich behauptet, aber kaum systematisch erforscht worden. Und nicht zuletzt sollte die Frage der Geschlechterverhältnisse im Karneval einmal kulturvergleichend untersucht werden, zumal die Geschlechtertravestie (Frauen in Männerkleidung usw.) häufig ganz prominent in den karnevalesken Praxen figuriert.
KW: Rüdiger, vielen Dank für das Interview und noch viel Erfolg bei deinen weiteren Forschungen!
Rüdiger Haude
ist heute freischaffender Kulturwissenschaftler in Wuppertal.
Literaturhinweise:
==============
Bachtin, Michail [1987]: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp .
McNally, David [2001]: Bodies of Meaning. Studies on Language, Labor, and Liberation. Albany: State University of New York Press.
Karneval und kritische Geschichte. Nicht wenige Intellektuelle wie Eric Hobsbawm interpretieren das bunte Treiben als mehr oder weniger perfide Form der Herrschaftsstabilisation. "Karneval ist der Tag an dem der Deutsche lacht", polemisiert auch nicht ohne Grund der Kabarettist Volker Pispers. Auf der IX. internationalen Konferenz des Berliner Instituts für kritische Theorie (InkriT) kam der Kulturwissenschaftler Rüdiger Haude nach Sichtung des historischen Materials zu einem differenzierteren Bild.
KW: Was hat eigentlich das Schlagwort "Karneval" in einem Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus zu suchen?
RH: Als "Karneval" untersuche ich, in der Nachfolge des russischen Literaturwissenschaftlers Michail Bachtin, nicht nur die "tollen Tage" vor der katholischen Fastenzeit, sondern allgemein kulturelle Formen, die sich gegen die hegemoniale Logik von Herrschaft und Ausbeutung setzen und dies in Festen zum Ausdruck bringen. Es sind Feste der Statusumkehr, bei denen die Hierarchien des Alltags aufgehoben sind und die Entbehrungen des Alltags durch den Exzess ersetzt werden. Wenn sich solche Feste bei den "Ritualen der Rebellion" der Zulu in Südafrika ebenso finden wie bei den römischen Saturnalien des Altertums oder im Karneval der europäischen Renaissance, so verweist das nicht auf genetische Verwandtschaft, sondern auf eine Ähnlichkeit der politischen und ökonomischen Strukturen und Kämpfe. Ins HKWM gehört ein entsprechendes Stichwort, weil Karneval emanzipatorische Kämpfe auf mehrfache Weise belehren kann - als Anregung ebenso wie als Mahnung.
KW: Worauf bist du bei deinen Forschungen gestoßen? Oder: Welches Bild ergibt sich heute für dich?
RH: Im Kulturvergleich ist eine erstaunliche Konstanz der Formen bei karnevalesken Festen der Statusumkehr festzustellen. Dem steht eine heftige Kontroverse über die politischen Funktionen gegenüber, die diesen Formen zukommen. Nicht ,entpolitisierte' Fragen über Brauchtum oder Fruchtbarkeitsmagie bestimmen heute die Debatten zur Geschichte des Karnevals, sondern die politischen Wechselwirkungen zwischen Karneval und Alltag.
KW: Welche politischen Funktionen kommen demnach dem Karneval zu?
RH: Ich habe vier Argumentationslinien unterschieden. Zwei von diesen sehen den Karneval als systemstabilisierend, nämlich einmal dadurch, dass der Karneval (im engeren Sinne) von der katholischen Kirche als Schreckbild inszeniert werde, um die Gläubigen desto bereitwilliger die Entbehrungen der darauf folgenden Fastenzeit ertragen zu lassen. Zum anderen dadurch, dass die karnevalesken Exzesse als "Ventil" aufgestauter Frustrationen dienten. Die anderen beiden Argumentationslinien sehen Karneval als oppositionelle Äußerungsform. Bachtin hat den Karneval der Renaissance vor allem als eine "zweite Welt" bestimmt, als scharf vom Alltag abgegrenzte Lebensform eigenen Rechts. Es ist die "Lachkultur", geprägt vom "grotesken Realismus", der ständig oben und unten vertauscht und mithin keine Hierarchien gelten lässt. Nur an wenigen Stellen kann man bei Bachtin aber ahnen, dass der Karneval als Labor für die Erprobung anderer Lebensformen dienen kann, oder als Ort, wo politische Kämpfe ausgetragen werden. Dieser vierte Aspekt, also der Zusammenhang von Karneval und Revolution, erscheint mir am spannendsten.
KW: Antideutsche würden vielleicht sagen, hier feiert sich die Volksgemeinschaft. Hätten sie damit Recht?
RH: Nein. Karneval ist ganz sicher kein national zu fassendes Phänomen. Freilich hat die vereinsmäßig gefasste Karnevalsumgestaltung im Rheinland in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts ein Programm nicht nur der Zähmung des Karnevals, sondern auch der nationalen Erziehung verfolgt, aber das gelang eben nur teilweise - das subversive Potenzial des Karneval brach sich, wie im Vormärz, immer wieder Bahn. Im 20. Jahrhundert ist der Karneval in Deutschland von den Nationalsozialisten pervertiert worden, aber das hat er z.B. mit vielen Elementen der Arbeiterbewegungskultur gemeinsam. Man darf das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, sondern muss schauen, um welche kulturellen Formen zu kämpfen sich lohnt.
KW: Schlug der Karneval in Revolten um?
RH: In Zeiten gesteigerter sozialer Spannungen, wenn die hegemoniale Ordnung einer Delegitimation unterlag, konnte der Karneval die Bühne sein, auf der das Startsignal zur Rebellion gegeben wurde. So liegt der Fall im bekannten "Karneval in Romans" von 1579, den Emmanuel Le Roy Ladurie so dicht beschrieben hat, oder auch beim Baseler Bildersturm von 1529, den Peter Weidkuhn erwähnt. Aber man sollte nicht nur das unmittelbare "Umschlagen" berücksichtigen, sondern auch den Effekt, dass der Karneval den Menschen überhaupt das Bewusstsein möglicher Alternativen zum Status quo vermittelte; ein Bewusstsein, dass dann zu ganz anderen Zeiten praktisch werden mochte.
KW: Siehst du einen Zusammenhang zwischen Karneval und den Aktionsformen der gegenwärtigen sozialen Bewegungen?
RH: Selbstverständlich. Das Vermummen und das theatralische Darstellen, die symbolische Tötung oder Bestattung allegorischer Figuren, die demonstrative Negation der hergebrachten Hierarchien, etwa durch Verspottung, und die geringe oder gar inexistente Bedeutung von Anführern - das alles gehört zum festen Repertoire der neuen sozialen Bewegungen. Der Pariser Mai 1968 zeigte dies bereits, und in den globalisierungskritischen Bewegungen ist diese performative Struktur besonders ausgeprägt. Negri und Hardt sehen deshalb im Karneval die "Logik der Multitude" verwirklicht.
Aber man darf die Ambivalenzen des Karneval nicht aus den Augen verlieren. Über Bachtins rigorose Trennung von Karneval und Alltag, die als idealtypische ihren Erkenntniswert hat, darf nicht ausgeblendet werden, dass der Karneval keineswegs frei ist von den Einflüssen der Hegemonial-Kultur (so wie umgekehrt die Logik der Groteske im Mittelalter nicht auf die karnevalistische Gegenkultur beschränkt war). Karneval konnte nicht nur in Revolte umschlagen, sondern auch in Pogrom. Es kommt deshalb darauf an, den Kampf um die Zielrichtung des Karnevals zu führen. Er hat schon eine tendenziell emanzipatorische Eigenlogik; aber man muss die Gefahr ihrer repressiven Überlagerung im Blick behalten.
KW: Zuletzt: Siehst du zum Thema Karneval noch Aufgaben einer gesellschaftskritischen historischen Sozialwissenschaft?
RH: Viele. Die Diskussion auf der InKriT-Tagung hat zum Beispiel ergeben, dass die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Karneval bislang unterbelichtet ist: In welchen staatlichen Kontexten findet kein Karneval statt, und warum ist das so? In welchem Verhältnis, so möchte ich selbst später einmal untersuchen, stehen karnevaleske Umkehrrituale zu entsprechenden Formen des Verspottens und der Parodie in vorstaatlichen, herrschaftsfreien Gesellschaften? Auch ist die Änderung der Bedingungen für karnevalistisches Handeln im entwickelten Kapitalismus zwar gelegentlich behauptet, aber kaum systematisch erforscht worden. Und nicht zuletzt sollte die Frage der Geschlechterverhältnisse im Karneval einmal kulturvergleichend untersucht werden, zumal die Geschlechtertravestie (Frauen in Männerkleidung usw.) häufig ganz prominent in den karnevalesken Praxen figuriert.
KW: Rüdiger, vielen Dank für das Interview und noch viel Erfolg bei deinen weiteren Forschungen!
Rüdiger Haude
ist heute freischaffender Kulturwissenschaftler in Wuppertal.
Literaturhinweise:
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Bachtin, Michail [1987]: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp .
McNally, David [2001]: Bodies of Meaning. Studies on Language, Labor, and Liberation. Albany: State University of New York Press.
kg2u - am Montag, 28. Januar 2008, 22:08 - Rubrik: Theorie der Kommunikationsguerilla