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Ein neuer Heiliger erobert Italien
Matthias Zucchi in "Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik, Kultur und Wirtschaft" ( 23/2004)

Er offenbart sich in Supermärkten und Nobelrestaurants, erscheint den Gläubigen in öffentlichen Verkehrsmitteln und leerstehenden Mietshäusern. Er prophe-zeit die Speisung der Armen, kostenlose Personenbeförderung und billigen Wohnraum für alle: San Precario erobert die Herzen der Italiener. Der Hl. Preka-rius (von it. precario = vorläufig, ohne Garantie), Märtyrer der Flexibilität, ist zum Schutzpatron aller Menschen ohne soziale Sicherheiten erhoben worden. Arbeitslose verehren ihn ebenso wie befristet Eingestellte, Billigentlohnte, werdende Mütter, Wohnungssuchende und Asylbewerber.

Am 6. November hat die erste landesweite Wallfahrt stattgefunden, zu der sich mehrere tausend Pilger in Rom zu-sammenfanden. Dabei ereignete sich das erste Prekarius-Wunder: Keiner der aus allen Landesteilen per Bahn angereisten Frommen brauchte einen Fahrausweis – zähneknirschend hat ­TrenItalia ihre Bußgelddrohung gegen die organisierten Freifahrer zurückgezogen. In Rom kam es auf Geheiß des Heiligen zu »Gratiseinkäufen«, die nun allerdings strafrechtlich verfolgt werden. Gegen prominente Vertreter der beteiligten New-Globals und der Arbeitslosenbewegung ist Anzeige erstattet worden.

Doch der Staatsschutz schreckt die Precario-Gemeinde nicht. In Berlusco-nien gewinnt der Kult täglich neue An-hänger, speziell aus der verarmenden Mittelklasse. Denn für einen Großteil der italienischen Familien ist der Alltag zu einem Existenzkampf geworden. In einem Land mit traditionell niedrigem Lohnniveau (etwa 50 bis 70 Prozent des deutschen Durchschnitts, Manager- und Politikergehälter ausgenommen) hat die mit der Einführung des Euro begonnene Angleichung der europäischen Verbrau-cherpreise schreckliche Folgen, die sich durch die Liberalisierung des Woh-nungsmarktes noch verschlimmern. In Durchschnittshaushalten geht mittler-weile über die Hälfte der Einkünfte für die Kaltmiete drauf. Bei Genußmitteln, Reisen, Bekleidung und selbst bei Grundnahrungsmitteln ist der Konsum stark rückläufig. Armut wird vor allem für die vielen alten Menschen, die mit 600 Euro Rente im Monat auskommen müssen, zum Normalzustand. Im ganzen Land verzeichnen die Armenküchen re-gen Zulauf. Die jungen Leute haben an-gesichts systematischer Aufweichung von Arbeitnehmerrechten und Tarifab-kommen kaum noch Mut zu Zukunfts-plänen. Wer hier nicht zum oberen Viertel gehört, hat nur noch eine Hoffnung: Er betet zu Sankt Prekarius, das soll gegen Liberalismus helfen.

Der inoffizielle Heiligenkalender ver-merkt ihn übrigens am 29. Februar.

 

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